Dienstag, 8.4. 07:38

Den Ermittlern der Kriminalkommission bietet sich ein morbides Bild, als sie noch vor der Morgendämmerung am Tatort ankommen. Die Leiche einer jungen Frau gebettet auf Rosenblättern, die Hände ineinander gefaltet. Ihre Haut ist schneeweiss, das Haar schwarz wie Ebenholz, auf den Lippen trägt sie rubinroter Lippenstift. Sie trägt ein weisses fliessendes Kleid, das sorgfältig um ihren Körper drapiert wurde. Doch skurriler als die Inszenierung der Leiche dürfte nur die Wahl des Tatorts sein. Inmitten des finsteren Kiefernwaldes, fern einer Lichtung, umgeben von tiefer Schwärze. Der Tatort war für das Ermittlungsteam nur mühselig zu erreichen. Die Anfahrt war nur bis zum Fuss des Hügels möglich, die restliche Strecke musste über einen überwachsenen Trampelpfad zurückgelegt werden. Das Ablegen der Leiche muss zeitaufwendig gewesen sein, oder wurde die junge Frau hier getötet, in der Tiefe des Waldes, wo sie niemand schreien hört?

Gefunden wurde die Leiche vom Förster, dessen Beagle eine Fährte mitten durch das Dickicht verfolgte. Das Verhalten seines sonst so disziplinierten Hundes machte ihn stutzig, als dieser die gewitterte Spur wie besessen verfolgte. Nachdem er auf das dritte Pfeifen nicht reagierte, zuckelte der Förster genervt die Böschung hinunter. Intuitiv griff er nach seinem Jagdmesser, weil er befürchtete, seinen Hund bei einem Kräftemessen mit einem Wildtier anzutreffen. Mit dem Fund einer Leiche hätte er niemals gerechnet.

Mittwoch, 16.4. 13:28

Der Fall wurde dem Ermittler Thommens zugeteilt. Mürrisch sitzt er an seinem Schreibtisch, tief in die Akten vertieft. Er nimmt einen grossen Schluck aus seinem personalisierten Kaffeebecher, den er von seinen Kindern zum Vatertag erhalten hat. Die fade Brühe hinterlässt einen bitteren Geschmack, ähnlich wie die Ergebnisse der Spurensicherung. 

Nun ist bereits eine Woche seit der Tatortbegehung vergangen, und die Kriminalkommission hat bisher keine Anhaltspunkte zur Tat ermitteln können. In der Autopsie wurden keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung festgestellt. Weder die Besprechung mit dem Förster noch mit der Familie des Opfers hat Früchte getragen.

Das Gespräch mit der trauernden Familie ist der Teil, der Thommens bei Ermittlungen am schwersten fällt. Über die Jahre bei der Kriminalkommission hat er gelernt, eine gesunde emotionale Distanz zur Trauer der Angehörigen zu entwickeln. Kalt lässt ihn das Schicksal von Opfer und Familie trotzdem nicht.

Die Worte, mit denen die Mutter den Charakter der jungen Frau beschrieb, wurden liebevoll gewählt. Sie pflegte ein inniges Verhältnis zur Familie. Im Wohnzimmer waren etliche Bilder von ihr aufgestellt, die ihr kurzes Leben tragisch glückselig zusammenfassen: Das Foto ihrer Einschulung, darauf ein gezwungenes Grinsen, zwei Zöpfe, die schlaff neben ihrem Kinn herunter baumeln und dem zu kurz geschnittenem Pony; die obligatorische Inszenierung der weihnachtlichen Familienidylle, sowie die Dokumentation eines feuchtfröhlichen Abends irgendwo am Mittelmeer.

Das Profil, das vom Opfer anhand der bisherigen Informationen erstellt werden konnte, ist das einer typischen jungen Frau: Überdurchschnittlich attraktiv, intelligent, sozial aufgestellt und lebenslustig.

Kurz nach vier Uhr traf sich Kommissar Thommens mit dem Vermieter zur Schlüsselübergabe. In der kleinen Zweizimmerwohnung hatte sich Thommens schnell umgesehen. Als er Richtung Schlafzimmer ging, knarrte das Fischgrätenparkett unter seinen Füßen, ganz so, als würde das Holz über den Eindringling klagen.

Im Schlafzimmer herrschte strenge Ordnung, selbst die Bücher im Regal waren penibel nach Alphabet sortiert. Über dem Bett war eine Weltkarte angebracht, auf der eine Reise durch den Orient mit Nadeln abgesteckt wurde. Auf dem Beistelltisch lag ein Tagebuch, das gleich einer Einladung aufgeschlagen war. Thommens nimmt das Buch in die Hand und folgt den Zeilen in fein leserlicher Schnörkelschrift.

" Du dachtest, ich sei das perfekte Opfer

schwach und verletzlich

naiv und zerbrechlich

Aber ich sollte nicht die Schande tragen,

die ist nur dir zuzuschreiben

doch Scham will verbleiben

sich in der Seele ausbreiten "

Schnell klappte Thommens das Tagebuch wieder zu. Beschämt darüber, in die Gedankenwelt einer Fremden einzudringen. Er hielt kurz inne, nur um zu vergewissern, dass seine Moral es zulässt, bevor er das Buch in seine Aktentasche steckt. Doch statt Widerrufe seines schlechten Gewissens vernimmt er nur das Ticken der Wanduhr, welches in den leeren Räumen widerhallt.

Freitag, 18.4. 21:34

Thommens fläzte auf seinem grossen Bürostuhl. Seine Beine stützte er auf zwei gestapelten Aktenschachteln, die er als Schemel missbrauchte. Vor einer halben Stunde hatte sich sein letzter Kollege von ihm verabschiedet. Er genoss die Stille, die in seinem Büro herrschte, nachdem der letzte Anruf das Dezernat endlich erreicht hatte. In seiner rechten Hand hielt er das Tagebuch so nah an seinem Gesicht, dass die Nasenspitze das Papier beinahe berührte, in der linken balancierte er einen Glimmstängel zwischen Zeige- und Mittelfinger. Gefesselt von jedem einzelnen Wort, merkte er nicht, wie er die Asche seiner Zigarette versehentlich in den Papierkorb schnippte.

Mondsucht

Sanft klopft der Mond an der Scheibe

In Dunkelheit gehüllt

Sanft geküsst von Mondschimmer

schmiegt sich an die Haut wie Seide

Die Mondsucht, die mich erfüllt

Ewiger Schlaf, vielleicht für immer

Wo Schatten, da Licht

Meine Seele berührt

Die Sehnsucht erwacht

Süsse Träume verspricht

die Mondsucht, die mich verführt

Leibeigene der Nacht

Die Seele ein Ort in Dunkelheit

Schatten der mich einnimmt

bleischwere Augenlider 

verfallen der Trägheit

die Mondsucht, die mich bezwingt

Gebe mich ihr nieder

Das schrille Piepen des Rauchmelders brach seine Konzentration. Schnell warf er das Buch auf den Tisch, leerte den Papierkorb und stampfte das Feuer aus. Nachdem er den Alarm deaktiviert hatte, setzte sich Thommens noch im Adrenalinhoch an den Schreibtisch und kramte den Obduktionsbericht aus den Akten.

Wut

Ich erkenne mich nicht wieder

Die Wut, die in mir kocht

unheilbares Fieber

Das Herz, dass so schnell pocht


Wut möchte ausbrechen

Bringt mich aus der Fassung

Möchte sich rächen

Systemüberlastung

Die Nerven zerrissen

die Sinne gespitzt

Bin fest verbissen

Das Gemüte erhitzt


Wünsche mir Innerer Frieden

Sicherheit

Möchte mich wieder Lieben

Geborgenheit